Polyneuropathie
Die Polyneuropathie ist eine Erkrankung des peripheren (peripher = am Rande) Nervensystems. Zum peripheren Nervensystem (PNS) gehören alle Nerven, die außerhalb von Gehirn und Rückenmark, dem zentralen Nervensystem (ZNS), liegen - angefangen von den Nervenwurzeln, die seitlich an der Wirbelsäule austreten, bis zu den feinsten Verästelungen in Muskeln und Haut. Hierzu zählen die so genannten motorischen Nerven, welche die Muskeltätigkeit steuern und sensorische Nerven, die dem Gehirn Informationen zuleiten. Zu den sensorischen Nerven gehören Schmerzfasern in der Haut, aber auch solche Fasern, die dem Gehirn über die Lage von Gliedmaßen, über Berührungen und ganz allgemein über Sinneseindrücke berichten.
Schließlich gibt es Nerven, welche die Funktion der inneren Organe wie Herz, Magen, Darm, Leber, Bauchspeicheldrüse und Blase beeinflussen. Sie werden als „autonomes“ oder „vegetatives“ Nervensystem bezeichnet. Die Aufgabe dieser Nerven ist sehr vielfältig. So zeigen beispielsweise die Nervenfasern der Blasenwand dem Gehirn den Füllungsgrad der Harnblase an. Aber auch die Tätigkeit der Schweißdrüsen und die Weite der Blutgefäße unterliegen der Kontrolle des autonomen Nervensystems.
​
In den meisten Fällen entstehen Schmerzen durch äußere Reize wie Entzündungen oder Verletzungen. Die Schmerzen bei einer Neuropathie („Nervenkrankheit“) entwickeln sich anders. Hier sind die Nervenfasern selbst geschädigt oder zerstört. Bei Neuropathien können nur ein einzelner Nerv („Mononeuropathie“), aber auch zahlreiche Nerven beteiligt sein, dann spricht man von einer Polyneuropathie (poly = viel). Wenn nur die Nervenwurzeln betroffen sind, spricht man von Radikulopathie (radix = Wurzel).
Die Polyneuropathie ist eine Krankheit, bei der die Reizweiterleitung gestört ist. Wegen der Länge der Nerven an Beinen und Armen machen sich die Symptome besonders hier bemerkbar. Sinnesreize werden entweder gar nicht, vermindert oder verstärkt an das Gehirn gemeldet. Die ersten Beschwerden sind häufig Missempfindungen wie Kribbeln und Brennen. Später treten Minderempfindungen auf, d.h. das Nichterkennen oder das verminderte Wahrnehmen von Berührung und Schmerz. Fehlempfindungen kommen als (falsche) Kälte- oder Wärmeempfindung oder als Schmerzempfindung bei nicht schmerzhaften Reizen vor.
Eine Polyneuropathie ist sehr oft Folge (bzw. Krankheitsanzeichen) einer anderen Krankheit. Sie stellt somit meist kein eigenständiges Leiden dar. Die möglichen Ursachen einer Polyneuropathie sind vielfältig. Häufigste Auslöser sind eine fortgeschrittene Zuckerkrankheit (diabetische Polyneuropathie) und chronischer Alkoholmissbrauch (alkoholische Polyneuropathie).
​
Zur Häufigkeit der Polyneuropathie gibt es keine zuverlässigen Angaben, sie wird jedoch weltweit auf etwa einen pro 2.000 Einwohner geschätzt.
Ursachen
Es sind über 200 verschiedene Ursachen einer Polyneuropathie bekannt, wobei Diabetes mellitus und Alkoholismus an erster Stelle stehen. Aber auch Infektionskrankheiten oder Stoffwechselkrankheiten, Mangelernährung (z.B. Vitaminmangel), Gift- oder Medikamenteneinwirkungen und Erbkrankheiten können eine Polyneuropathie zur Folge haben. Erworbene Polyneuropathien sind wesentlich häufiger als angeborene. Bei etwa 20 % der Patienten bleiben die Ursachen allerdings ungeklärt.
​
Diabetische Polyneuropathie
Bei den häufigeren symmetrischen Formen ist der erhöhte Blutzucker direkt für die Schädigung der Nerven verantwortlich. Bei den asymmetrischen Formen die Nerven durch krankhafte Veränderungen kleiner Gefäße (Mikroangiopathie) geschädigt.
Experten schätzen, dass jeder zweite Diabetiker im Laufe seines Lebens an einer diabetischen Polyneuropathie erkrankt. Der Grund dafür ist noch nicht restlos geklärt. Man vermutet aber, dass der erhöhte Blutzucker eine wesentliche Rolle spielt und die Nervenschädigung begünstigt. Hierfür spricht, dass Diabetiker, die Probleme mit der Einstellung ihres Blutzuckers haben oder diese vernachlässigen, besonders früh und besonders schwer eine Polyneuropathie entwickeln. Die Wahrscheinlichkeit an einer Polyneuropathie zu erkranken steigt mit der Dauer der Zuckererkrankung.
​
Alkoholische Polyneuropathie
Bei der Polyneuropathie als Folge eines chronischen Alkoholmissbrauchs werden die Nerven toxisch geschädigt und dadurch die Reizleitung gestört. Daneben kann bei der alkoholischen Polyneuropathie auch eine Mangelernährung mit Vitaminmangel eine Rolle spielen.
Weitere Ursachen einer Polyneuropathie
Ein Vitaminmangel (Vitamin B12-Mangel) kann beispielsweise auch durch eine einseitige Ernährung (z.B. Veganismus: kompletter Verzicht auf Eier, Milch- und Fleischprodukte) oder eine Magenoperation verursacht werden und eine Polyneuropathie auslösen.
Außerdem können Nierenerkrankungen, Lebererkrankungen oder eine Schilddrüsenunterfunktion die peripheren Nerven schädigen. Dies gilt auch für Gifte (z.B. Arsen) oder vorrangig solche Medikamente, die in der Therapie von Krebserkrankungen eingesetzt werden (z.B. Cisplatin). Die Neigung zu einer Polyneuropathie kann auch vererbt sein.
Einige Infektionen mit Bakterien oder Viren können ebenfalls eine Polyneuropathie auslösen. Eine akute Erkrankung, das so genannte Guillain-Barré-Syndrom wird autoimmun ausgelöst und zerstört die Nervenscheiden der peripheren Nerven. Dadurch wird die Leitfähigkeit der Nerven vermindert.
Schließlich kann eine Polyneuropathie das erste Anzeichen einer Krebserkrankung sein.
​
Symptome
Die Beschwerden einer diabetischen Polyneuropathie hängen davon ab, welcher Nervenfasertyp betroffen ist. Auch das Ausmaß der Symptome ist sehr unterschiedlich. Viele Diabetiker haben nur Gefühlsstörungen, andere Gefühlsstörungen und Kraftstörungen, viele haben Schmerzen. Charakteristisch ist das Auftreten zunächst an Zehen und Füßen, dann auch an Fingern, Händen und Knöcheln bzw. Unterschenkeln. Mit fortschreitender Erkrankung können Nervenzellen absterben. Bei manchen Patienten ist die Polyneuropathie das erste Anzeichen einer bestehenden Zuckerkrankheit. Die Betroffenen wenden sich wegen Taubheit, Kribbeln oder Schmerzen an den Arzt, der erst dann einen Diabetes mellitus feststellt.
Die diabetische Polyneuropathie entwickelt sich in den meisten Fällen sehr langsam. Auch sind die Beschwerden anfänglich oft sehr milde. Der Verlauf ist vielfach sogar so schleichend, dass die betroffenen Blutzuckerpatienten selbst lange nichts bemerken, weil sie sich an die sich allmählich verändernde Wahrnehmungsfähigkeit anpassen. So wird die diabetische Polyneuropathie eher selten im Anfangsstadium erkannt. Spezialärzte für Diabetes mellitus (Endokrinologen, Diabetologen) kennen natürlich die Komplikation der diabetischen Polyneuropathie, so dass ein systematisches „Abfragen“ charakteristischer Symptome und das Suchen nach typischen Anzeichen zur Betreuung diabetischer Patienten gehört. Es gibt allerdings auch eine Form, die so genannte fokale Neuropathie, bei der es plötzlich zu starken Beschwerden kommt.
Die diabetische Polyneuropathie betrifft alle Arten von Nerven, sensorische ebenso wie motorische und vegetative.
​
Beschwerden bei diabetischer Polyneuropathie:
​
-
„Kribbeln“ oder „Ameisenlaufen“ auf der Haut (Parästhesien)
Das Berühren von warmen oder kalten Gegenständen kann unangenehm sein, die Mediziner sprechen von so genannten Dysästhesien (Fehlempfindungen). Typisch ist auch ein Pelzigkeits- und Taubheitsgefühl an den betroffenen Extremitäten. Gelegentlich fühlt sich ein betroffenes Bein geschwollen an, obwohl es nicht verdickt ist. Andere Patienten spüren einen unangenehmen Druck an den Füßen, auch wenn die Schuhe nachweislich nicht zu eng sind. Sie meinen „wie auf Watte“ zu gehen. Die Temperaturempfindung im Bereich der geschädigten Nerven kann gestört oder gar nicht mehr vorhanden sein. Die Patienten fallen häufig durch einen unsicheren Gang auf, vor allem im Dunkeln. Wenn die Schmerzempfindung gestört ist, kommt es zu schmerzlosen Wunden, die wegen der gestörten Funktion auch nicht gut heilen und gefährliche Eintrittsstellen für Infektionen sind. Andererseits zeigen sich spontan Schmerzen, die als brennend oder auch bohrend, einschießend, stechend oder krampfartig geschildert werden.
​
-
Muskelschwäche an Händen und Füßen
Mit dem Nachlassen der Muskelkraft werden die Muskeln dünner. Es kann sogar zu Fehlstellungen der Gliedmaßen, insbesondere des Fußgewölbes kommen. Mitunter werden Muskelzuckungen, nicht selten Muskelkrämpfe (besonders Wadenkrämpfe) beobachtet.
​
-
Verdauungsstörungen
Viele Patienten klagen über Schluckstörungen, Völlegefühl oder Erbrechen. Aber auch wechselweise Durchfall (nachts!) und Verstopfung können manchmal erste Hinweise auf eine Polyneuropathie der Verdauungsorgane (autonome Polyneuropathie) sein. Die Beeinträchtigung der Magenentleerung ist ein Problem, das oft spät erkannt und zu wenig bedacht wird. Gefährliche Unterzuckerungen sind die Folge.
​
-
Benommenheit und Ohnmachtsanfälle nach dem Aufstehen
Benommenheit und Ohnmachtsanfälle beim Aufstehen sind Folge der gestörten Nervenkontrolle der Gefäße. Die Blutgefäße ziehen sich beim Aufstehen nicht wie gewohnt zusammen, so dass der Blutdruck plötzlich abfällt. Dem Patienten wird dann schwindelig, „schwarz vor Augen“ und er kann bewusstlos werden (Synkope).
​
-
Schwierigkeiten beim Wasserlassen und Impotenz
Die Schädigung autonomer Nervenfasern führt auch dazu, dass Diabetiker beispielsweise kein Gefühl mehr haben, wie stark die Harnblase gefüllt ist. Die Folge ist unkontrolliertes Wasserlassen. Bei Männern können Potenzstörungen auftreten.
​
-
Gewichtsverlust und Depression
Gewichtsabnahme und Depression sind keine direkte Folge der diabetischen Polyneuropathie, allerdings aufgrund der andauernden Schmerzen eine häufige Begleiterscheinung.